Laudatio von Erwin Scholl anlässlich der Ausstellung in Wadern im Sommer 2000

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1. Der schwierige Umgang mit modernen Bildern

1.1 Oft werden die Bilder der Meister früherer Jahrhunderte allein
als gültige Kunst angesehen

1.2 Fernand Léger: Der realistische Wert eines Bildes ist von seiner
imitativen Qualität vollkommen unabhängig

1.3 Kunst ist nie Natur allein, sondern immer Naturalismus + Abstraktion

1.4 Picasso: Natur und Kunst sind immer verschiedene Dinge

1.5 Höhlenmalereien sind Gedankenbilder

2. Warum veränderte sich die bisherige Art des Malens
hin zu stärkerer Abstraktion?

2.1 die beschreibende und erzählende Funktion

2.2 die Überflüssigkeit des visuellen Realismus

2.3 Paul Cézanne: "Die Kunst ist ein Werk parallel zur Natur."

2.4 die gesehene und die empfundene Natur

2.5 Die Bilder werden zu einer Befragung der Natur

2.6 die Formen verzichten darauf die Natur sklavisch abzubilden

2.7 die Farben müssen nicht Gegenstandsfarben sein

2.8 die Komposition kann die Bildelemente freier anordnen

3. Wie müssen wir als Betrachter diesen Bildern begegnen?

3.1 dem intensiven Beobachten der Wirklichkeit, folgt beim Maler
eine intensive geistige Auseinandersetzung

3.2 Mit der Kraft zu sehen, zu denken, zu fühlen und zu erfahren
begegnen wir diesen Bildern

3.3 Fragen an uns selbst

4. Gesichtspunkte zur Analyse des Bildes "Macht"

4.1 Die Formensprache

4.2 Die Farbigkeit des Bildes

4.3 Zur Kompostionsfigur

4.4 Die durch die bildnerischen Mittel veranschaulichte Bildidee

4.5 Und wie ist es, wenn ich solchen Menschen begegne?

4.6 Zusammenfassung

5. Bilder wie die von Eva Thiery sind geeignet, den Gefahren,
die von der Bilderflut unserer Medien ausgehen, zu begegnen

5.1 die Illusion Fernsehen

5.2 die Bilder von Eva Thiery verlangen ein Offensein für Fragen und
ein Suchen nach Antworten durch unser eigenes Leben

6. Welcher Kunstrichtung gehört Eva Thiery an?

 

 

1. Der schwierige Umgang mit modernen Bildern

Eine häufige Frage vor modernen Bildern lautet: "Was soll um Himmels willen ein solches Bild darstellen?" Die Frage drückt Ratlosigkeit aus und verweist gleichzeitig darauf, daß man mit falscher Methode dem Bild begegnet. Wenn sich nicht gleich eine Antwort findet , wendet man sich enttäuscht ab. Man vergleicht mit den gerade gesehenen andere Bilder, die eine größere imitative Qualität haben, die Gegenstände so abbilden, wie unsere Augen es gewöhnt sind, einen Baum, eine Straße, eine Landschaft oder einen Menschen zu sehen. Oft werden dann die Bilder der Meister früherer Jahrhunderte allein als gültige Kunst angesehen. Man preist sie wegen ihrer realistischen Qualität, die angeblich die modernen Bilder so entbehren. Der französische Maler Fernand Léger stellt im Gegensatz zu der gerade dargestellten Meinung schon 1913 die These auf: "Der realistische Wert eines Bildes ist von seiner imitativen Qualität vollkommen unabhängig." Nach seiner Meinung kann also ein modernes Bild, das in seiner Malweise eher abstrakt, also ungegenständlicher ist, den gleichen, vielleicht sogar einen höheren realistischen Wert besitzen als ein Bild, das die Gegenstände sehr abbildhaft zeigt. Ob Léger mit seiner These recht hat, mögen Sie selbst nach dem Besuch der Ausstellung von Eva Thiery beantworten.

Kunst ist nie Natur allein, sondern immer Naturalismus + Abstraktion

Picasso äußert sich zu dieser Frage in einem Interview, das 1923 in der amerikanischen Kunstzeitschrift 'The arts' veröffentlicht wurde: "Man spricht immer vom Naturalismus (Picasso meint mit dem Begriff hier die mehr abbildhafte Darstellungsweise) als dem Gegensatz zur modernen Malerei. Ich möchte wohl wissen, ob irgend jemand schon einmal ein natürliches Kunstwerk gesehen hat. Natur und Kunst sind immer verschiedene Dinge." Picasso führt zur Erläuterung 2 Beispiele an: Zwei Barockmaler, der Spanier Velasquez und der Niederländer Rubens haben beide dieselbe Person gemalt, nämlich Philipp IV., den Herrscher des damaligen spanischen Weltreiches. Aber auf Rubens Bildnis scheint es sich um einen ganz anderen Mann gehandelt zu haben als bei Velasquez. Velasquez betont z.B. vor allem die Züge, die ihn als Herrscher darstellen, der von seinem Recht auf Macht überzeugt ist. Der Maler abstrahiert, indem er bestimmte Eigenschaften besonders hervorhebt und andere dafür vernachlässigt, also ist sein Werk nicht einfach Abbild der Natur.

Und so war es immer, meint Picasso, angefangen von den ersten Bildern, die wir in Südfrankreich oder Spanien als Höhlenmalereien bewundern können. Das Bild eines stehenden Bisons ist dort nicht rein abbildend, sondern die Abstraktion liegt in der besonderen Betonung der Stärke und Kraft des Bisons. In der Höhle von Agua Amarga in Spanien sind die in der Steinzeit gezeichneten Jäger stark stilisiert, und die Figuren sind reduziert auf die wichtigsten Eigenschaften und Geräte. Es handelt sich bewußt nicht um eine Imitation, sondern um ein Gedankenbild, bei dem nicht das gesamte äußere Erscheinungsbild des Jägers interessiert, sondern die hervorragende Eigenschaft des schnellen Laufens und andererseits eine genaue Darstellung seiner Waffen. In der Ausstellung von Eva Thiery werden Sie ein Bild sehen mit vielen Händen, die in unterschiedlichster Weise zupacken, berühren, greifen. In der Höhle von Gargas in den Pyrenäen finden wir negative Handabdrücke in großer Zahl, ohne jede Binnenzeichnung, wahrscheinlich wurde mit einem Röhrchen die Farbe um die Hand geblasen, Bilder, die in ihrer besonderen Darstellungsweise wohl symbolischen Charakter haben.

Natürlich ist der Grad der Abstraktion in der modernen Kunst meist größer als im sog. Naturalismus. Die Gewohnheit, daß der Bildinhalt in der früheren Malerei in der Regel immer eine starke Stütze im Gegenständlichen hatte, daß die Oberfläche der Gegenstände ähnlich dargestellt wurde, wie unser Auge sie sieht, daß auch das Bild die Räumlichkeit durch die Zentralperspektive täuschend echt wiedergab, erleichterte beim Betrachter das Sehen und erlaubte ihm, auch ohne besondere Kenntnisse, sich diese Kunst bis zu einem gewissen Grad zu erschließen. Die Form dieses gewohnten Schönen gab dem Auge gewohnte Genüsse. Da ist es nicht verwunderlich, daß bei einer Vermehrung des Abstrakten in den Bildern der Moderne das Lesen und Verstehen der Bildzeichen Schwierigkeiten bereitet.

2. Warum veränderte sich die bisherige Art des Malens hin zu stärkerer
Abstraktion?

Der visuelle Realismus, das ist die eben beschriebene Art des Malens, bei der Formen des Gegenstandes möglichst genau nachgeahmt wurden, bei der die Farben des Bildes Gegenstandsfarben waren, d.h. sie entsprachen den Farben, die die Dinge in der Wirklichkeit tragen, dazu die perspektivische Darstellung, entsprachen einer beschreibenden und erzählenden Funktion, die die Kunst jahrhundertelang auch hatte. Wenn der Vater seinen Sohn in früheren Zeiten vielleicht ein Bild der Seeschlacht von Le Panto zeigen konnte, wollte er ihm u.U. genau erläutern, wie damals 1571 die spanische, venezianische und päpstliche Flotte über die Türken siegte. So konnte auch in den vergangenen Jahrhunderten jede Stadt einen oder mehrere Maler ernähren, weil Bilder in Auftrag gegeben wurden, die geographische oder historische Besonderheiten darstellten, und die vielen Porträts , die von Frauen, Männern und Kindern anzufertigen waren, wurden nur bezahlt, wenn sie eine mindestens äußere Ähnlichkeit aufwiesen.

Als aber im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts das erste brauchbare fotografische Verfahren entwickelt war, ergab sich eine gewisse Überflüssigkeit des visuellen Realismus. Viele kleine Meister des Porträts wurden z.B. arbeitslos, weil die Fotografie weniger Sitzungen als das Porträt erforderte, die Ähnlichkeit getreuer wiedergab und zudem noch kostengünstiger war. Während sich die Ausdrucksmittel bis zur Gegenwart von der Fotografie über Film und Fernsehen, die Reproduktionsmöglichkeiten über Kopierer und Computer so vervielfältigten, wie wir es alle kennen, war es absolut notwendig, daß die Kunst sich auf ihre speziellen Ausdrucksmöglichkeiten besann.

Einer der besonders über die eigenen Möglichkeiten der Malerei nachdachte, war Paul Cézanne. Um 1900 äußert er sich über das Verhältnis zwischen Natur und Kunst, zwischen Landschaft und modernem Bild. Das Bild , das der Maler schafft, ist nicht Natur, sagt er. "Die Kunst ist ein Werk parallel zur Natur." Es gibt 2 gleichlaufende Texte, die sich in der Kunst durchdringen: die gesehene Natur und die empfundene Natur. Das Auge widmet sich dem optischen Studium der Natur, das Gehirn aber erschließt in der neuen Kunst tiefere Dimensionen der Wirklichkeit. "Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir."

Weil die geistige Dimension des Motivs deutlicher hervortreten soll, ist in der Entwicklung der modernen Malerei nicht mehr der einzelne Gegenstand in seiner materiellen Erscheinung Hauptziel der Darstellung. Kunst muß versuchen, in der Gestaltung der Dinge deren Eigenschaften zu überdenken. War das Ziel des Künstlers früher in stärkerem Maße auf die Darstellung des Gegenstandes gerichtet, wie das Auge ihn wahrzunehmen meint, so ist der Blickpunkt auf den hin die Dinge dargestellt werden, nun mehr zurückgenommen in das menschliche Bewußtsein. Um es in einem Bild auszudrücken: Der Blickpunkt liegt nicht mehr im Zielpunkt der Zentralperspektive, sondern ist ganz und gar zurückgenommen hinter das Auge, in das Bewußtsein. Die Bilder werden zu einer Befragung der Natur. Da es um eine umfassende geistige Auseinandersetzung mit dem Gegenstand geht, ist eine einseitige perspektivische Sicht nicht förderlich. Bilder können so gewissermaßen eine Meditation über wenige aus der Realität ausgewählte Elemente werden. Mit Hilfe der Bildzeichen versucht der Maler das innere Leben des Bildgegenstandes zu enthüllen. Die Aussagemöglichkeiten der Malerei werden so erweitert. Der Maler wird versuchen, die Idee seines Bildes mit entsprechenden künstlerischen Ausdrucksmitteln darzustellen. Es sind eigentlich die gleichen künstlerischen Mittel, die die frühere Malerei benutzte, aber die Formen verzichten vielleicht darauf die Natur sklavisch abzubilden, verfremden vielleicht den Bildgegenstand, um die Bildidee deutlich werden zu lassen, die Farben müssen nicht Gegenstandsfarben sein, werden u.U. allein von einer gegenseitigen Farbwirkung bestimmt, die der Verdeutlichung der Bildidee dient, die Komposition kann die Bildelemente freier anordnen, welchen Raum die einzelnen Bildelemente einnehmen wird vielleicht allein dadurch bestimmt, welchen Nutzen dies für die Bildidee bringt. Die Darstellungsweise bietet den Reiz des Neuartigen und Fremden, macht neugierig, stellt Fragen.

3. Wie müssen wir als Betrachter diesen Bildern begegnen?

Der primären Tätigkeit, dem intensiven Beobachten der Wirklichkeit, folgt beim Maler eine intensive geistige Auseinandersetzung. Die gleichen Schritte müssen wir als Betrachter vollziehen. Wir sollten zunächst einmal das Bild im ganzen betrachten, auf uns wirken lassen, um so einen ersten Eindruck zu gewinnen. Der ist aber noch nichts Endgültiges, und wir sollten auch nicht gleich auf den Bildtitel starren. Schon gar nicht sollten wir gleich formulieren: "Das Bild meint das und das." Die Rezeption des Bildwerkes im einzelnen bedeutet aber nun aktiv werden, genau hinsehen, mit den Augen vermessen und vergleichen, die Eigenart und auch die Gegensätzlichkeit von Formen und Farben herausstellen, Licht, Farbenreichtum, Farbenspiel beschreiben, Elemente der Komposition und ihre gegenseitige Zuordnung bestimmen. Von diesen genau ermittelten Darstellungsmitteln her können wir erst erfragen, welche Bildidee sie zusammengenommen verdeutlichen wollen, ob unser erster Bildeindruck eine Bestätigung findet oder ob wir ihn revidieren müssen. Mit der Kraft zu sehen, zu denken, zu fühlen und zu erfahren begegnen wir diesen Bildern. Es drängen sich uns Fragen auf, wir können nicht gleich einen Schlußstrich setzen. Die aufgeworfenen Fragen werden uns vielleicht auch noch am nächsten Tag oder in der nächsten Woche beschäftigen. Wir werden bei der Analyse moderner Bilder vielleicht die Darstellung gesellschaftlicher Realitäten entdecken, aber was viel wichtiger ist, wir müssen akzeptieren, daß hier Fragen an uns selbst gestellt werden. Damit treten wir gewissermaßen in das Werk ein. Wir stellen fest, daß wir mitgemeint sind, daß wir gewissermaßen Teil dieser Werke sind.

Von daher wäre jetzt nur eine Art der Weiterarbeit den Bildwerken gemäß, die die Betrachter aktiv teilnehmen läßt. Nicht daß da einer vorne steht und beschreibt, was seine Augen und sein Verstand beim Betrachten des Bildes ermitteln können, wenn viele Augen hinschauen, müßten auch viele Äußerungen möglich sein über das, was die Augen sehen, nur damit würde die Forderung des Aktivseins erfüllt, und im gegenseitigen Austausch würden bildnerische Mittel deutlicher beschrieben. Die Bildidee darf erst am Schluß nach einer genauen Analyse der Bildmittel zur Sprache kommen, denn nichts darf in ein Bild hineingesehen werden, hinein phantasiert werden. Nur das kann als Bildidee gelten, was durch klare Hinweise der bildnerischen Mittel gestützt ist. Die Betrachter sollen nicht mehr durch einen Trennungsstrich von der Bühne des Bildes getrennt sein. Sie sollen gewissermaßen über Schauen und Bedenken zum Mitspieler des Bildereignisses werden.

Um dies anfanghaft zu versuchen, wurde jetzt Gelegenheit gegeben, daß die Besucher sich einen Überblick über die Ausstellung verschafften, dann sich in Gruppen von fünf oder 6 Personen mit einem Bild auseinandersetzten. Am Schluß bemühten sich alle gemeinsam exemplarisch ein Bild nach seinen bildnerischen Mitteln zu untersuchen.

4. Gesichtspunkte zur Analyse des Bildes "Macht"

Der erste Eindruck: Eine Person betritt die Bildbühne in heftiger Bewegung

Genaues Beobachten der bildnerischen Mittel

a) die Formensprache

Mit Formen sind hier Linien gemeint, wie sie Flächen und Körper begrenzen, aber es sind auch die verschiedenartigen Flächen selbst und die Körperformen, aus denen sich u.U. der Bildgegenstand zusammensetzt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um sehr klar und eindeutig begrenzte Flächen. Das Bild setzt sich zusammen aus verschiedenen Farbflächen, wirkt zunächst eher flächig als dreidimensional. Räumlichkeit entsteht allerdings dadurch, wie die Flächen einander zugefügt sind oder gegeneinander stehen. Der Eindruck der Räumlichkeit wird noch durch das Gegeneinandersetzen von hellen und dunklen Farbtönen verstärkt. Die benutzten geometrischen Figuren sind vor allem Dreieck, Rechteck und Kreis. Daneben gibt es unregelmäßige zum Teil gebrochene Flächen, insbesondere am Kopf und im Brustraum der Hauptfigur.

Welche Ausdrucksqualität hat die Formensprache?

Raumgreifende Bewegung , stabiles Vorwärtsschreiten wird durch die Bewegung der Beine signalisiert, andererseits erscheinen Beine und Füße wie spitze Rammblöcke, die in den Boden gesetzt, Stärke und Kraft demonstrieren. Sie werden nicht zurückweichen. Die geometrischen Flächen verstärken den Eindruck der Kraft, z.B. im Schulterbereich der Person, die Arme sind besonders stark. Der linke Arm liegt eng am Körper, es ist nicht zu erkennen , was die Hand hält. Der Kopf zeigt eine nur unvollkommene Binnenzeichnung, zwar sehen wir einen breiten Mund, aber die Augen fehlen. Der Kopf scheint wie auch der Körper an mehreren Stellen aufgebrochen, insbesondere die Stirn ist wie von Flüssigkeit zeräzt. Hinter dem Kopf erscheint eine helle kreisrunde Scheibe. Da wir mindestens 3 solcher Scheiben sehen, die 2. und 3. immer unvollständiger im Bild, und da wir im unteren Bilddrittel mindestens ein drittes Bein erkennen, ergibt sich die Frage, ob nicht mindestens eine 2., wenn nicht eine 3. Person angedeutet ist, die allerdings so hinter der ersten herzugehen scheinen sind, daß sie fast in der ersten Person aufgehen und von ihr kaum zu unterscheiden sind. Deuten die weißen Scheiben eine Art Aura an, Glorienscheine, wie sie entstehen, wenn Hofmaler und Hofberichterstatter von den Taten ihres Herrn künden? Nun kommt der Einwand: Die Kreisscheiben sind der Inbegriff der vollkommenen Form, und hier stehen sie im Gegensatz zu den eckigen und kantigen Formen, aus denen sich die Figur zusammensetzt. Dies muß akzeptiert werden, stellt aber nicht unbedingt einen Gegensatz zu vorheriger Deutung dar. Vergl. weiter unten!

b) Die Farbigkeit des Bildes.

Die blauen und blauvioletten Farbtöne bilden mit den gelb-orangefarbenen Farbtönen einen besonders starken Kontrast. Wir reden von einem Komplementärkontrast, weil die Zusammenstellung dieser Farben ihr Leuchtkraft gegenseitig erhöhen. Neutrale Grautöne in 2 gegenüberliegenden Ecken der Bildfläche dienen ebenso dazu die Farbigkeit der Bildmitte zu steigern und zu erhöhen.

Farben als Ausdrucksmittel

Die Farbe der Kleidung hebt sich besonders stark von der Umgebung ab, soll Aufmerksamkeit erzeugen Obwohl die Form des Kopfes von Bruchlinien durchzogen ist, paßt die tiefe Bräune des Gesichtes dazu, den schon durch die Formensprache erzeugten Eindruck von strotzender körperlicher Kraft und Robustheit zu steigern.

c) Zur Kompostionsfigur

Auffallend ist wie diese starke, muskulöse Figur - bzw. Figuren - in ein enges Hochformat eingespannt sind.. Die größeren geometrischen Grauflächen in den Ecken des Bildes scheinen den Blick freizugeben auf das plötzliche Auftreten dieser Person. Die Figur ist so in die Bildfläche hineinkomponiert, daß keiner anderen Person Raum bliebe, sich vor oder neben ihr aufzupflanzen, allenfalls kann sie sich hinter sie ducken. Auch die Art, wie die Person die Mitte des Raumes einnimmt, unterstreicht den schon durch die anderen Bildmittel erzeugten Eindruck von besonderem Selbstbewußtsein und Rangbewußtsein. Man könnte sich ja auch eine Person vorstellen, die scheu an der Wand klebt. Das wäre das Gegenteil .

d) Die durch die bildnerischen Mittel veranschaulichte Bildidee.

Ein Mächtiger, nicht wegen seiner Geisteskräfte mächtig, sondern in brachialer Gewalt mächtig, tritt energisch und mit fast an Wahnsinn reichendem Selbstbewußtsein auf, er wird keine Rivalität dulden. Sein Umgang mit Menschen ist nicht zart und behutsam, sondern gewaltsam, zwingend und bezwingend. Er ist das Gegenteil eines ausgeglichenen, freundlichen Menschen. Der Mächtige, wie er hier dargestellt ist, ist immer im Recht. Der Forderung Brechts "Höre beim Reden!" entspricht dieser Mächtige ganz und gar nicht.

Die ganze Art seines Auftretens, seine Körperhaltung, seine Kleidung mit allen Attributen, mit denen er sich umgibt, enthalten angsterregende Momente. Er ist nicht für andere da, wohl aber die andern für ihn. Partnerschaft auf gleichem Niveau gibt es nicht. Die Kommunikation ist nicht ein Austausch von Gedanken und ein Ernstnehmen der Argumente der anderen Gesprächsteilnehmer, sondern besteht vor allem im lautstarken Befehlen und Dirigieren .

Und wie ist es, wenn ich solchen Menschen begegne?

Ich kann mich ihm entgegenstellen, dann werde ich in irgendeiner Form aus dem Weg geräumt. Vielleicht kann ich eine Demutshaltung einnehmen, wie das schwache Tier im Wolfsrudel: "Du könntest mich beißen, wirst es aber nicht tun, weil ich mich dir unterwerfe." Vielleicht lächeln wir als schwacher Gegenüber den Mächtigen an: "Bitte tu mir nichts, ich bin auch ganz lieb." Wie es Kurt Tucholsky spottend ausdrückt: "Wer seine Obrigkeit läßt walten, der bleibt immer wohlbehalten." Er selbst wurde von den Nazis verfolgt, weil er sich gegen Nationalismus und Militarismus, gegen Machtmißbrauch durch Polizei und Justiz wandte. Alles Kranke, Schwache, Sensible wird bei einem solchen Menschen, wie er hier dargestellt ist, kein Verständnis finden.

Noch einmal zurück zu den kreisrunden weißen Flächen. Formal stellen sie natürlich einen Ausgleich im Bild her. Es besteht ein Gegensatz zwischen den geometrischen bzw. unregelmäßigen harten Formen einerseits und den Kreisen als den regelmäßigsten Formen, die der Formenkanon aufweist. Andererseits kann die Deutung einer Aura sehr wohl durch diese gegengewichtigen Formen ausgedrückt werden. Viele Potentaten , "die kleinen Potentaten" wie die großen, bemühen sich , durch entsprechende public-relation-Bemühungen ein Scheinbild aufzubauen , das ihrer widrigen Wirklichkeit entgegengesetzt ist.

Zusammenfassung:

Das Bild "Macht" wurde dadurch veranlaßt, daß die Malerin sich mit der Biographie einer Frau aus Merzig befaßte und darin die schlimmen Erlebnisse dieser Frau im 3. Reich kennenlernte. Aber die Malerin gibt der Bildidee in dieser Darstellung eine solche Allgemeingültigkeit, daß sie keineswegs auf politische Machtsysteme allein anzuwenden ist. Sondern das Bedenken, wie der Mächtige sich gebärden kann, hat Bedeutung für alle Bereiche, in denen Macht ausgeübt wird, ob das unter Geschäftspartnern, im betrieblichen Verdrängungswettbewerb, in der Schule oder im kleinen Bereich der Familie ist.

5. Bilder wie die von Eva Thiery sind geeignet, den Gefahren, die von der Bilderflut
unserer Medien ausgehen, zu begegnen

Das Visuelle scheint uns heutige Menschen immer stärker zu dominieren. Das geschriebene Wort, das seit Gutenberg einen ungeheuren Einfluß auf die geistige Entwicklung der Menschen genommen hatte, scheint eine gewisse Monopolstellung zu verlieren. Fotografische Bilder erheben den Anspruch größter Authentizität und Wahrhaftigkeit. Gerade das Fernsehen schafft bei uns Betrachtern leicht die Illusion, daß wir sehr gut informiert würden und daß wir die Wahrheit der Dinge und Geschehnisse nun erfahren hätten. Der Psychologe und Professor Siegfried Frey verweist in seinem Buch "Die Macht des Bildes" auf diese Gefahren hin. Er fragt, ob nicht gerade die Bilder unserer Medien wegen ihrer Vielfalt und Schnelligkeit an der Wahrnehmung der Welt hindern, ob z.B. bei der Schnelligkeit der Bilder in Film oder Fernsehen überhaupt Zeit bleibt, sich intensiv mit dem angesprochenen Thema auseinanderzusetzen. Geben wir ruhig zu, daß wir aufgrund visueller Stimuli besonders der Gefahr der Manipulation ausgesetzt sind.

Bei der Art der Bilder von Eva Thiery haben wir gesehen, wie intensivstes Beobachten der Wirklichkeit und tiefgehendes Nachdenken über diese gesehene Wirklichkeit Voraussetzungen für die Entstehung der Bilder sind, wie andererseits von uns als Betrachtern ein gleichartiges Bemühen gefordert ist., d.h.. nur ein intensives und Zeit brauchendes Beobachten der Bildelemente schafft die Möglichkeit, den Bildinhalt zu erschließen, und der ist nicht gleich mit einem Schlußpunkt versehen, sondern kann uns lange beschäftigen. Allein die Dechiffrierung, die Entschlüsselung gewisser Bildelemente, braucht schon Anstrengung und Zeit - und der schließlich ermittelte Bildinhalt verlangt ein Offensein für die sich aus der Summe der Bildelemente ergebenden Fragen und ein Suchen nach Antworten durch unser eigenes Leben. Die Malerin hätte z.B. unter dem Titel "Macht" irgendeinen mächtigen Mann imitierend und vor allem überhöhend darstellen können, so wie es jahrhundertelang war, daß man z.B. einen General oder einen Kaiser auf hohem Roß und beide noch dazu auf hohem Podest darstellte. J.L. David hat so Napoleon gemalt - Napoleon auf einem sich aufbäumenden feurigen Roß, der Feldherr mit weit wehendem rotem Mantel. Vielleicht sagen wir nach dem Betrachten dieses Bildes: "Das ist der von Statur kleine, aber in seiner Willenskraft und Tatkraft große Napoleon, - bewundernswert."

Vielleicht bedenken wir aber bei der Betrachtung des Bildes "Macht" von Eva Thiery , wie sich in den vielfältigen Formen menschlichen Zusammenlebens Macht entfaltet. Und unsere Fragen könnten lauten: Bedarf der Mächtige der Gewalt, die einen widerstrebenden Willen bricht oder den eigenen Willen der Beherrschten gar nicht aufkommen läßt. Und die Frage läßt sich nicht ausklammern: Wie gehe ich an der Stelle, an der ich Macht ausübe - und ist es auch im kleinsten Bereich - mit Macht um? Wie übe ich sie aus? - die entscheidende Frage.

6. Welcher Kunstrichtung gehört Eva Thiery an?

Manche der gängigen Namen sind eher zufällig, vergl. Impressionisten, Fauves usw. Was bringt es auch, zu versuchen, ein Werk einer bestimmten Schublade zuzuordnen?

Eines kann man aber sicher feststellen, daß die Bilder von Eva Thiery in besonderem Maße zur Reflexion, zum Nachdenken, anregen, daß sie uns Menschen, die auch wegen der Flut der leicht zu rezipierenden Bilder in Gefahr sind, primitivem Unverstand zu verfallen, anregt, einfach und groß die Dinge in den Blick zu nehmen.

Sie mögen sich nun an die These von F. Léger erinnern, daß die realistische Qualität eines Bildes von seiner imitativen Qualität vollkommen unabhängig ist. Beantworten Sie sich selbst die Frage, ob hier Wirklichkeit zur Sprache kommt. ich für meinen Teil behaupte, daß hier Realismus, Darstellung der Wirklichkeit in eindringlichster Form zu finden ist.

Nun kann man einwenden, daß intensivstes Beobachten der Wirklichkeit und das analysierende Bedenken dieser Wirklichkeit, so wichtig auch diesen beiden Schritte sind, noch kein Kunstwerk machen. Dem ist sicher so. Künstlerischer Anspruch kommt diesen Bildern von Eva Thiery zu, weil sie es versteht, mit schöpferischer Phantasie mit den künstlerischen Elementen des Lichts, des Farbenreichtums und Farbenspiels, der Formensprache in ihrer Vielfalt und ganzen Gegensätzlichkeit umzugehen, und wegen ihrer Art, wie sie Bildelemente zusammenfügt oder in Gegensatz stellt und damit bestimmte Wirklichkeiten in unseren Blick zu bringen vermag. So sind Bilder entstanden, die den Betrachter künstlerisch ansprechen, ihn aber zum Nachdenken und Befragen der Welt anhalten.